Hund, Katze, Heimtier: Von Handicaps und Selbstmitleid

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Ralph Rückert – Tierarzt

Studium an der Ludwig-Maximilian-Universität in München
Niedergelassen in Ulm seit 1989

Mitgliedschaften:
Fachgruppe Kleintierkrankheiten der Dt. Veterinärmedizinischen Gesellschaft
Deutsche Gesellschaft für Tier-Zahnheilkunde
Akademie für tierärztliche Fortbildung
Bundesverband praktizierender Tierärzte e.V. (Fachgruppe Kleintierpraxis)

Die meisten meiner Artikel werden durch reale Erlebnisse in der Praxis angestoßen, in diesem Fall durch einen Tierbesitzer, der vor Entsetzen aus allen Wolken fiel, weil ich ihm als einzig denkbare Therapiemöglichkeit für seinen Hund die Amputation eines Hinterbeines nahe gelegt habe.

So eine Reaktion ist in den 30 Jahren meines Berufslebens dankenswerterweise immer seltener geworden, kommt aber immer noch häufig genug vor, dass ich über das Thema mal ein paar kurze Anmerkungen “zu Papier bringen” will.

Bild zur Neuigkeit

Obwohl es schon über 20 Jahre her ist, erscheint es mir wie vorgestern, dass ich beim örtlichen Tierärztestammtisch von einer jungen Kollegin argumentativ hart angegangen wurde, weil ich kurz zuvor einem Kater ein irreparabel geschädigtes Vorderbein amputiert hatte, anstatt ihn sogleich einzuschläfern. Ich war damals auch noch nicht lange genug praktisch tätig, um diese Einwände spurlos an mir abperlen zu lassen, zumal der Eingriff zu diesem Zeitpunkt erst drei Tage her war, ich also den weiteren Verlauf noch nicht abzuschätzen vermochte.

Drei, vier Wochen später – der Kater war schon längst wieder zu Hause – wäre ich wesentlich selbstsicherer gewesen, denn der (ehemalige) Vierbeiner kam mit der neuen Situation geradezu glänzend zurecht. Er hatte im Übrigen noch ein langes, gutes Leben und erreichte ein normales Alter.

Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Seitdem habe ich keinerlei Hemmungen mehr, einer Katze bei entsprechender Notwendigkeit ein Bein zu amputieren. Das gleiche gilt (unter bestimmten Voraussetzungen, auf die wir noch kommen werden) natürlich auch für Hunde.

Als (extremes!) Beispiel dafür, wie gut Tiere auch mit schwersten Körperbehinderungen umgehen können, mag uns Dominik, der berühmte zweibeinige Greyhound-Rüde, dienen. Schauen Sie sich das bitte an:

Greyhound Dominik

Einen Hund, der sowohl das Vorder- als auch das Hinterbein auf der gleichen Seite verloren hat, weiterleben lassen? Das war sicher keine einfache Entscheidung, weder für die Besitzer, noch für die beteiligten Kolleginnen und Kollegen. Nach dem Videoclip zu urteilen, war es aber richtig! Dominik lebt und freut sich auch ganz offensichtlich seines Lebens!

Ein weiteres Beispiel für meine Argumentation ist Nogger, mein Patterdale Terrier. Er erlitt schon mit einem halben Jahr eine aseptische Femurkopfnekrose, die zu einer linksseitigen Femurkopfresektion (letztendlich eine Art unsichtbarer Amputation) und rechts zu einem schweren Hüftgelenkschaden geführt hat. Oben zwischen Einleitung und Haupttext sehen Sie ein Röntgenbild, das die (reichlich scheußliche) Situation im Alter von etwas über drei Jahren darstellt. Damals hätte kein Tierarzt – auch ich nicht – einen Euro drauf gewettet, dass das noch lange ohne weitere operative Eingriffe gut gehen würde. Es stand durchaus im Raum, dass Nogger wahrscheinlich eine eher begrenzte Lebenszeit haben würde.

Aus etwa der gleichen Zeit stammt dieser Videoclip von Nogger bei seinem Lieblingssport:

Nogger beim Frisbeespielen

Ich finde es nach wie vor sehr beeindruckend, was das Kerlchen mit einem fehlenden und einem total kaputten Hüftgelenk alles anstellen kann. Das eigentlich Unglaubliche ist aber, dass er dazu, inzwischen fast 8 Jahre alt, immer noch imstande ist, ja, dass er diese extrem wirkende Bewegung sogar braucht, damit seine Hüften nicht völlig versteifen. Ich bin mir sicher bzw. sehe ganz deutlich, dass er immer mal wieder ordentlich Schmerzen hat, besonders in der Früh, kurz nach dem Aufstehen. Ab und zu benötigt er auch für ein paar Tage Schmerzmittel. Aber er lebt sein Leben, spielt nach wie vor mit großer Freude Frisbee oder Ball, schwimmt wie ein Otter und geht – ganz Terrier-Rüde – immer noch keiner Schlägerei aus dem Weg.

Es versteht sich von selbst, dass man nicht jedem Tier ein schweres körperliches Handicap zumuten kann, um ihm ein Weiterleben zu ermöglichen. Ein schon sehr altes Tier mit beträchtlichen Vorschäden an den Gelenken wird eine Gliedmaßenamputation in der Regel nicht lange überleben. Das Gleiche gilt für Hunde oder Katzen mit starkem Übergewicht oder für Rassen, die (in menschlicher Unvernunft!) schon per se zu schwer oder zu groß gezüchtet worden sind. 

Ich wünsche natürlich keinem Tierbesitzer, dass er und sein Familienmitglied je in eine solche Lage kommen, plädiere aber im Fall der Fälle unbedingt dafür, ein Tierleben nicht leichtfertig wegzuwerfen, weil man nicht gleich in der Lage ist, aus seiner Haut zu schlüpfen bzw. seine anthropozentrischen Maßstäbe über Bord zu werfen. Wenn wir Menschen in Folge einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls eine dauerhafte und lebensverändernde Behinderung hinnehmen müssen, dann tun wir uns damit oft sehr, sehr schwer.

Aber: Mindestens die Hälfte der Probleme, mit denen wir Menschen in so einem Fall zu kämpfen haben, spielt sich in unserem Kopf ab. Wir erinnern uns zwangsläufig daran, wie es vorher war, was wir sowohl funktionell als auch ästhetisch verloren haben. Wir hadern mit unserem Schicksal, kurz: Wir leiden unter Selbstmitleid!

Und genau das ist für Tiere einfach kein Problem. Sie haben nie Selbstmitleid. Sie nehmen das Leben, wie es kommt. Sie wollen unbedingt, also tatsächlich ohne Vorbedingungen, einfach leben, zumindest solange, wie dieses Leben nicht mit wirklich unerträglichen Schmerzen verbunden ist.

Der Schriftsteller D. H. Lawrence hat es so ausgedrückt:

“I never saw a wild thing sorry for itself. A small bird will drop frozen dead from a bough without ever having felt sorry for itself.”

(“Ich habe nie ein wildes Tier gesehen, das Selbstmitleid empfand. Ein kleiner Vogel, der erfroren ist, wird tot von seinem Ast fallen, ohne jemals Selbstmitleid empfunden zu haben.”)

Also, denken Sie bitte daran: Unsere Haustiere kommen – gerade aufgrund dieses völligen Mangels an Selbstmitleid – in überraschend vielen Fällen mit einer dauerhaften Behinderung weitaus besser zurecht, als wir Menschen es für möglich halten würden. Sollten Sie jemals vor dieser Brücke stehen, dann gehen Sie drüber und geben Ihrem Tier die Chance, Ihnen zu zeigen, was Lebenswille und Lebensfreude bedeuten.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert