Ralph Rückert – Tierarzt Studium an der Ludwig-Maximilian-Universität in München Mitgliedschaften: |
Neulich in einer Facebook-Hundegruppe: “Was kostet denn hier in der Region so eine Zahnreinigung? Ein Zahn muss auch noch gezogen werden!”
Klar, da kamen jede Menge Antworten mit wild über das ganze denkbare Spektrum verstreuten Summen. Ich habe mich dann in einem Kommentar bemüht, aus fachlicher Sicht darzustellen, dass mit den angegebenen Informationen keine realistische Kostenschätzung möglich ist, weil zum Beispiel keiner weiß, wie schwer oder wie alt der Hund ist, ob es Vorerkrankungen gibt und welcher Zahn da genau extrahiert werden muss. Im Gegensatz zum Menschen muss der ganze Eingriff ja in Vollnarkose abgewickelt werden, was einen großen und sehr variablen Teil der Kosten ausmacht.
Das Posting hat mich danach trotzdem noch eine ganze Weile nicht losgelassen, und irgendwie kam mir der Gedanke, dass Ihr Tierbesitzer in genau diesem Punkt, nämlich der Narkose bei Eurem Tier, uns Tierärzten so richtig ausgeliefert und deshalb ziemlich arme Schweine seid! Nur zur Klarstellung: Mit dieser Formulierung will ich Euch in keinster Weise beleidigen, sondern vielmehr mein Mitleid, mein Mitgefühl für diese Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen.
Wie könnte man da helfen? Wohl am ehesten durch möglichst weitgehende Aufklärung und Transparenz, denke ich. Ich habe mich mit dem Thema “Narkose” ja schon in mehreren Artikeln beschäftigt (siehe Links ganz unten!). Seit 2016 gibt es nun eine umfassende “Leitlinie Anästhesiologische Versorgung bei Hund und Katze”, herausgegeben durch die Fachgruppe Veterinärmedizinische Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie (VAINS) der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft.
Also werden wir hier jetzt mal versuchen, diese Leitlinie nach Anhaltspunkten zu durchkämmen, die dem Tierhalter dabei helfen können, das Leben seines Haustieres nicht absolut uninformiert und nur mit der Zielvorstellung möglichst niedriger OP-Kosten in die falschen Hände zu legen. Wenn wir am Ende dieses Artikels angekommen sind, solltet Ihr dazu in der Lage sein, anhand einer kurzen Checkliste einige wirklich wichtige Voraussetzungen für eine sichere Narkoseführung abzuklopfen. Das einzige, was Ihr dazu braucht, ist der Wille, Euch durch diesen nicht gerade kurzen Artikel zu kämpfen und meine Ratschläge dann auch konsequent umzusetzen.
Zu Anfang noch ein kurzer Exkurs zur Klärung der Frage, was Leitlinien eigentlich sind. Dazu lassen wir am besten die Autoren selbst zu Wort kommen:
“Leitlinien haben das Ziel, die Qualität der medizinischen Versorgung der Patienten zu verbessern und die gute klinische Praxis zu fördern. Anders als häufig gedacht, sind sie nicht rechtsverbindlich, sondern Orientierungshilfen im Sinne von “Handlungs- und Entscheidungskorridoren”, von denen in begründeten Fällen auf der Basis eines fundierten klinischen Urteils abgewichen werden kann oder sogar muss (Beispiel für mögliche Gründe: klinischer Befund, aggressives Tier, fehlende Kostenübernahme). Ein solches begründetes Abweichen von der Leitlinie soll eine Tierärztin/ein Tierarzt in der Patientendokumentation festhalten, vor allem dann, wenn es um grundsätzliche Empfehlungen geht. Ein generelles Abweichen von der Leitlinie oder Unterschreiten der dort gesetzten Empfehlungen bei allen Tierpatienten einer Praxis/Klinik ist nicht vorgesehen.” Anmerkung: Die Hervorhebung des letzten Satzes stammt von mir, weil ich ihn für sehr wichtig halte.
Die Leitlinie hebt einleitend hervor, dass das Narkoserisiko in der Tiermedizin ungleich höher ist als in der Humanmedizin und in etwa auf einem Niveau liegt, das beim Menschen schon 1940 erreicht war. Das ist KEIN Kompliment für uns Tiermediziner und nagt dementsprechend auch ordentlich an mir! Unter rationalen Gesichtspunkten gibt es dafür mehrere und miteinander verknüpfte Ursachen:
- Viele Tierbesitzer üben durch die uninformierte Denkweise, wie sie in dem Posting ganz oben zum Ausdruck kommt, einen permanenten und harten Preisdruck auf die Tierarztpraxen aus, die sich dadurch genötigt sehen, alle Arten von Eingriffen unter Narkose so billig wie möglich anzubieten, was natürlich Investitionen in Fortbildung, Personal und Narkosetechnik nicht gerade fördert.
- Narkosen werden in der Tiermedizin von so gut wie jeder Praxis durchgeführt, was in der Humanmedizin, wo dafür ausschließlich die darauf spezialisierten Anästhesisten zuständig sind, schlicht undenkbar wäre.
- Wie in allen Berufen gibt es leider auch in unserem Kolleginnen und Kollegen, die schlicht fortbildungsunwillig und innovationsfeindlich sind und die ein Narkose-Sterberisiko von über einem Prozent (mehr als ein Todesfall auf 100 Narkosen!) für durchaus akzeptabel und die ganzen von der Leitlinie angeführten Forderungen für “neumodischen Schnickschnack” halten.
- Selbst unter idealen Bedingungen werden wir bezüglich des Narkoserisikos niemals das Niveau der Humanmedizin erreichen, weil eine allerorten zur Verfügung stehende Spezialisierung und eine entsprechende Überwachungsapparatur schon aus finanziellen Gründen einfach nicht vorstellbar sind.
Trotzdem ist da noch jede Menge Luft nach oben! Wir können – im Durchschnitt gesehen – wirklich viel besser werden als jetzt. Gerade die Narkoseüberwachung durch Pulsoximetrie und Kapnometrie, die in den 1980ern einen Sicherheitsquantensprung in der Humananästhesie bewirkt hat, ist inzwischen auch für viele Tierarztpraxen gut bezahlbar. Auf der anderen Seite gibt es aber leider nach wie vor die nur dem Motto “So billig wie möglich!” folgenden Steinzeitnarkosen, die den Schnitt massiv nach unten drücken und bei denen einem unter Sicherheitsaspekten eigentlich nur schlecht werden kann.
Also, was könnt Ihr Tierbesitzer im Vorfeld einer Narkose abfragen? Wir müssen dazu erst mal gar nicht allzu tief in die Leitlinie vordringen, denn schon auf Seite 2 taucht eine genial einfache Checkliste auf, die die Association of Veterinary Anaesthetists immerhin schon 2008 aufgestellt hat:
Jede Tierärztin/jeder Tierarzt, der eine Allgemeinanästhesie durchführt, muss in der Lage sein:
- den Atemweg des Tieres zu sichern (Intubation),
- Sauerstoff zu verabreichen,
- manuell eine kontrollierte Beatmung durchzuführen (z. B. durch Verwendung eines selbstfüllenden Beatmungsbeutels (z. B. Ambu®-Bag) oder eines Narkosegerätes),
- Medikamente und Infusionslösungen intravenös zu verabreichen, idealerweise über einen Venenkatheter,
- eine kardiopulmonale Wiederbelebung durchzuführen.
Vom letzten Punkt, den Ihr nicht wirklich prüfen könnt, mal abgesehen, sind das die “bare essentials”, die absoluten Grundvoraussetzungen, ohne deren Erfüllung ich als Tierbesitzer sofort auf den Hacken kehrt machen würde:
- Eine Intubation muss zumindest möglich sein, bei Praxen wie unserer, die eigentlich jeden Eingriff (auch eine Katzenkastration) in Inhalationsnarkose durchführen, muss sie auch verpflichtend und von vornherein gemacht werden. Ebenso obligatorisch ist die Intubation bei zahnmedizinischen Maßnahmen und anderen oronasalen Eingriffen UND (ganz wichtig!) bei jeder auch noch so kurzen Narkose der brachycephalen Rassen (“Plattnasen”).
- Sauerstoff muss zur Verfügung stehen. Bei Inhalationsnarkosen ist das ein Automatismus, weil Sauerstoff das Trägergas für das Inhalationsnarkotikum darstellt. Nur um das klarzustellen: Sauerstoff (O2) ist NICHT Raumluft, sondern muss in Druckflaschen oder in Form eines Konzentrators zur Verfügung stehen.
- Eine manuelle Beatmung muss möglich sein. Bei Inhalationsnarkosen ist das über das Narkosegerät grundsätzlich der Fall.
- Das Tier muss einen venösen Zugang gelegt bekommen, über den eine Dauertropfinfusion und die schnell wirksame Verabreichung von Medikamenten möglich ist. Jeder Patient, der länger als eine halbe Stunde in Narkose liegt, sollte in den Genuss einer Infusion kommen!
In Praxen und Kliniken, die das erlauben, kann man sich als Besitzer selber davon überzeugen, dass ein venöser Zugang gelegt und das Tier nach der Narkoseeinleitung intubiert wird. Wo das nicht möglich ist, könnt Ihr diese Punkte völlig ungeniert abfragen. Wer da nichts zu verbergen hat, wird auch willig Auskunft geben.
Der nächste und wirklich wichtige Punkt ist die Aufklärung. Das muss nicht den fast schon absurden Umfang wie in der Humanmedizin annehmen, aber wenn ich als Besitzer nicht vorab zumindest über die speziellen Narkose- und Operationsrisiken meines Tieres aufgeklärt werde, dann ist das kein gutes Zeichen!
Spätestens, sobald das narkotisierte (und hoffentlich mit Tubus und Venenkatheter versehene) Tier in den Operationstrakt verschwunden ist, geht nichts mehr mit persönlicher Kontrolle durch den Besitzer. Dann beginnt der Bereich des Vertrauens. Ihr werdet in der Regel nicht nachsehen können, mit welchem personellen und maschinellen Aufwand der Narkoseverlauf überwacht wird. Aber Ihr könnt und solltet Fragen stellen, die jeder Tierarzt, der voll hinter seinem Anästhesie-Konzept steht, auch gerne beantworten wird.
Also, fragt einfach:
- Ist da eine Person, die (fast ausschließlich) dafür abgestellt ist, die Narkose zu überwachen? Das ist eine harte Anforderung der Leitlinie, weil sie in sehr vielen Praxen aufgrund von Personalknappheit nicht oder nur teilweise zu erfüllen ist. Speziell in Notfallsituationen wird man als Tierbesitzer diesbezüglich Kompromisse akzeptieren müssen. Seitdem – wie in einem der letzten Artikel erläutert – die Notfallversorgung durch das massenhafte Aufgeben von Kliniken vielerorts wieder an die Haustierarztpraxen zurückgefallen ist, kann man nicht erwarten, dass da mitten in der Nacht oder am Wochenende volle OP-Teams antreten.
- Welche Überwachungsgeräte kommen zum Einsatz? Pulsoximetrie? Kapnometrie? Blutdruckmessung? EKG? Pulsoximetrie ist das absolute Minimum, alles andere wird um so bedeutsamer, je älter das Tier ist, je eingeschränkter sein Gesundheitszustand und je länger die Narkose dauert.
- Wird die Narkose und die Überwachung in einem Narkoseprotokoll dokumentiert? Kann ich eine Kopie bekommen?
- Wie lange dauert ungefähr die Aufwachphase? Wird diese ebenfalls intensiv überwacht? Man muss wissen, dass 50 Prozent aller tödlichen Narkosezwischenfälle genau in dieser Phase passieren. Das Ende der Aufwachphase wird durch das selbständige Aufrichten des Tieres in die Brust/Bauchlage definiert. Bei modernen und gut geführten Narkosen ist das in der Regel 10 bis 15 Minuten nach Beendigung des Eingriffes der Ball.
So, ich denke, damit haben wir so ziemlich alles aufgeführt, was der Tierbesitzer abchecken kann. Ziehen wir das Ganze zur Absicherung doch noch mal umgekehrt auf und fassen die No-Go-Punkte zusammen, die Euch als Tierhalter zum Kehrtmachen bringen sollten:
- Keine (schriftliche!) Risikoaufklärung!
- Kein Narkose-Protokoll!
- Bei Inhalationsnarkosen, bei Mund-, Nasen- und Zahneingriffen und bei Plattnasen keine Intubation!
- Kein venöser Zugang (Venenkatheter), dementsprechend auch keine Dauertropfinfusion!
- Je nach Lage des Falles unzureichende Überwachungstechnik. Ich persönlich halte Pulsoximetrie und Kapnometrie für das Minimum. Kapnometrie setzt aber Intubation voraus, weshalb bei uns ALLE Hunde und Katzen intubiert sind. Bis vor wenigen Wochen habe ich bei der kürzesten aller Standard-OPs, der Kastration von jungen Katern, noch eine Ausnahme gemacht, die ich aber inzwischen auch fallen gelassen habe.
- Keine Möglichkeit zur Blutdruckmessung vorhanden! Dieser Punkt ist mir in letzter Zeit immer wichtiger geworden. In der Humanmedizin ist das Standard seit der Steinzeit, für uns in der Tiermedizin aber immer schon ein echtes technisches Problem. Die High-Definition-Oszillometrie-Technik (HDO) ermöglicht eine komfortable und durchgehende Blutdrucküberwachung, die extrem hilfreich ist, um Probleme zu erkennen, bevor sie ernste Folgen haben. Außerdem erspart die HDO-Messmethode in vielen Fällen ein EKG.
- Und superwichtig: Eine Herausgabe des Tieres an seinen Besitzer noch in Seitenlage ordne ich nicht nur als No-Go, sondern als echten Skandal ein. Steh- und gehfähig, anders verlässt bei uns kein Tier die Praxis! Wird einem als Besitzer bei der Abholung ein Tier in Seitenlage präsentiert, sollte man sofort und mit Nachdruck auf eine Weiterführung der Überwachung durch das Personal bestehen, bis der Patient wieder auf den Füßen ist. Danach muss man sich halt eine neue Praxis suchen, denn ein Russisch-Roulette-Spiel mit dem Leben des Tieres muss nun wirklich nicht sein. Wir erinnern uns: Die Hälfte aller tödlichen Narkosekomplikationen passiert in der Aufwachphase, und ein Patient in Seitenlage hat diese Phase einfach noch nicht hinter sich!
So, fertig! Ach ja, eines noch, damit wir uns nicht missverstehen: Was ich mit diesem Artikel auf keinen Fall auslösen möchte, ist der durch Tierbesitzer massenhaft an Kolleginnen und Kollegen herangetragene Wunsch, bei der OP dabei sein zu wollen. Von gelegentlichen und individuellen Ausnahmen mal abgesehen (medizinische Fachpersonen, Freunde, etc.) kann keiner von uns aufgeregte und der Ohnmacht nahe Tierbesitzer, die man zuvor auch noch mit einem Mords-Aufwand steril einpacken müsste, in seinem OP-Raum brauchen. Das funktioniert nicht, denn sonst könnte man wirklich nicht mehr konzentriert arbeiten, was letztendlich auf Kosten des Tieres ginge.
Es wird ganz sicher Kolleginnen und Kollegen geben, die meine Vorstellungen (bzw. die der Leitlinie) für überzogen halten, aber das sind eben meine Ratschläge an Euch Tierbesitzer, aus meiner persönlichen Sicht als Tierarzt mit dreißig Jahren Erfahrung und dementsprechend etwa 30000 Narkosen auf dem Buckel. Diese Ratschläge kann man befolgen oder nicht. Auf jeden Fall kann niemand, der bis hierher gelesen hat, noch behaupten, er wäre nicht ausreichend informiert gewesen.
Eines muss klar festgehalten werden: Eine im Sinne der Leitlinie gute Narkose kann nicht billig sein, und eine billige Narkose kann dementsprechend nicht gut sein! Schließlich kommt Überwachungstechnik im Wert von Tausenden von Euro zum Einsatz.
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