Der MDR1-Gendefekt (MDR steht für Multi Drug Resistance) wurde wahrscheinlich durch einen einzigen Hund Mitte des 19. Jahrhunderts in den genetischen Pool einiger Hunderassen eingeschleust. Der betreffende Hund war maßgeblich an der Entstehung und Festigung der Rasse Collie beteiligt. Alle heute vom MDR1-Defekt betroffenen Rassen haben demzufolge irgendeine Verwandtschaft zum Collie.
Hunde mit diesem Defekt haben eine für bestimmte Substanzen bei weitem durchlässigere Blut-Hirn-Schranke als normale Hunde. Der Tiermedizin fiel dieses Phänomen erstmals in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts durch das Antiparasitikum Ivermectin (Handelsname Ivomec) auf, das allgemein von Hunden sehr gut vertragen wurde, aber bei vielen Collies zu schwersten Vergiftungen bis hin zum Tod führte. Anfänglich war die Ursache unbekannt, so dass Tierärzte meiner Generation einfach lernen mussten, Ivermectin und seine Weiterentwicklungen auf keinen Fall bei britischen Hütehunden einzusetzen.
Durch Versuche mit sogenannten Knock-Out-Mäusen, bei denen das MDR1-Gen abgeschaltet war, und durch Vergleiche der Gensequenzen eines Beagles mit denen eines Collies wurde das Problem dann wissenschaftlich aufgeklärt. Bestimmte Arzneimittel können im Gehirn von Defektträgern bis zu hundertfach höhere Konzentrationen als im Normalfall erreichen, was natürlich in der Regel sehr böse Folgen nach sich zieht.
Seit über zehn Jahren wird nun durch das TransMIT-Zentrum für Pharmakogenetische Diagnostik an der Universität Gießen ein Test auf den MDR1-Gendefekt angeboten. Aus ein paar Tropfen Blut lässt sich sicher ermitteln, ob der Hund ein Merkmalsträger ist oder nicht. Dabei sind drei Ergebnisse möglich:
-MDR1+/+: Alles in Butter, keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen nötig.
-MDR1+/-: Der Hund ist heterzygot betroffen, ein Elterntier hat den Defekt vererbt, eines nicht. Der Hund kann sensitiv auf bestimmte Arzneimittel reagieren und den Defekt auch weiter vererben.
-MDR-/-: Der Hund ist homozygot betroffen, der Defekt wurde von beiden Elterntieren vererbt, von einer hochgradigen Empfindlichkeit bezüglich der noch zu nennenden Arzneimittel muss ausgegangen werden.
Welche Hunderassen sind nach bisherigem Forschungsstand vom MDR1-Defekt mit welcher prozentualen Häufigkeit betroffen?
Collie (Kurzhaar) 68 %, Collie (Langhaar) 55-57 %, Longhaired Whippet 42-65 %, Australian Shepherd (Miniature) 20-50 %, Shetland Sheepdog (Sheltie) 7-35 %, Silken Windhound 18-30 %, Australian Shepherd 17-46 %, McNab 17-30 %, Wäller 17-19 %, Weißer Schäferhund 14 %, Old English Sheepdog (Bobtail) 1-11 %, English Shepherd 7-15 %, Deutscher Schäferhund 6-10 %, Border Collie 1-2 %, Mischlinge 1-7 %.
Neben den bestürzend hohen Prozentzahlen bei Collie, Sheltie und Aussie finde ich vor allem die Zahlen für den Weißen und den Deutschen Schäferhund überraschend. Wer hätte das so erwartet? Ich behaupte mal, dass die meisten Schäferhundbesitzer davon keine Ahnung haben.
Auf welche Arzneimittel müssen wir denn nun achten?
-Makrozyklische Laktone, also Ivermectin und seine Abkömmlinge wie Doramectin, Selamectin, Moxydectin, Milbemycinoxim, die für antiparasitäre Behandlungen verwendet werden. Da diese Wirkstoffe auch bei Pferden zur Anwendung kommen, ist diesbezüglich größte Vorsicht geboten: Die Verabreichung oder versehentliche Aufnahme von Pferdepräparaten oder sogar des Kots von behandelten Pferden ist für mit dem Gendefekt behaftete Hunde extrem gefährlich. Medikamente aus dieser Gruppe dürfen betroffenen Hunden nur dann verabreicht werden, wenn sie dafür ausdrücklich zugelassen sind. Aktuell sind mir vier Präparate bekannt, die für die Anwendung auch bei MDR1-/- Hunden geprüft sind: Advocate, Stronghold, Milbemax und Program Plus. Aber auch diese vier Arzneimittel müssen bei Defektträgern peinlich genau dosiert werden.
-Loperamid (Handelsname Imodium und zahlreiche Generika) ist das meist verkaufte rezeptfreie Human-Durchfallmittel in Deutschland. Man kann es auch beim Hund anwenden, und das geschieht leider sehr häufig ohne vorherige Rücksprache mit dem Tierarzt. Bei Hunden mit dem MDR1-Defekt kann das ganz böse in die Hose gehen.
-Zytostatika, in der Krebstherapie (Chemotherapie) eingesetzte Wirkstoffe, sind für MDR-/- Hunde hochgradig gefährlich.
-Emodepsid (Handelsname Profender und Procox) hat bei MDR-/- Hunden eine sehr enge therapeutische Breite. Bereits eine doppelte Überdosierung führt zu Vergiftungserscheinungen.
-Opioide (Morphin, Methadon, Fentanyl, Butorphanol und andere) sind wichtige Wirkstoffe zur Schmerzunterdrückung während und nach chirurgischen Eingriffen. Sie wirken unter anderem atemdepressiv. Dieser unerwünschte Effekt ist bei Hunden mit MDR1-Defekt dramatisch verstärkt.
-Weitere kritische Arzneistoffe sind zum Beispiel die sehr gebräuchlichen Antimykotika (gegen Pilzbefall) Ketoconazol und Itraconazol, das Immunsuppressivum Cyclosporin A (häufig verwendet zur Unterdrückung von Juckreiz), die allseits bekannten Magenschutzpräparate Cimetidin und Ranitidin, das nach wie vor zur Narkoseprämedikation beliebte Sedativum Acepromazin und darüber hinaus noch einige durchaus gebräuchliche Antibiotika.
Sie sehen, es gibt leider sehr viele Möglichkeiten, einem Hund mit MDR1-Defekt ungewollt durch die Anwendung eines gebräuchlichen Wirkstoffes schweren Schaden zuzufügen. Hat man unwissentlich einen Welpen, der von dem Defekt betroffen ist, kann das lange Zeit gut gehen, bis irgendwann eine Situation eintritt, in der eines der kritischen Arzneimittel eingesetzt werden muss. Dann schlägt’s plötzlich ein, und der Hund gerät eventuell in Lebensgefahr. Man denke nur an allfällige Narkosen: Die oben genannten Opioide sind DIE Wirkstoffe zur Erreichung einer Analgesie (Schmerzfreiheit) bei operativen Eingriffen. Ist der zu operierende Hund MDR1 -/-, kann es gut passieren, dass er während der OP plötzlich einen Atemstillstand erleidet, den sich erstmal keiner erklären kann.
Deshalb: Wenn Sie einen Hund der oben erwähnten Rassen haben, dann lassen sie ihn bitte beizeiten auf den MDR1-Defekt testen. Mir persönlich wäre als Besitzer sogar das einprozentige Risiko eines Border Collies zu viel. Umso weniger verstehe ich, wie unglaublich viele (nur als Beispiel) Aussies da draußen rumlaufen, die nie getestet wurden und bei denen die erstmalige Anwendung eines der kritischen Medikamente ein echtes Glücksspiel darstellt. Nochmal: Schauen Sie sich die obige Rasseliste an und lassen Sie Ihren Hund bei Bedarf testen. Denken Sie auch daran, dass man zum einen Mischlingen eine eventuelle Verwandtschaft um zig Ecken mit dem Collie nicht unbedingt ansehen können muss, und dass zum anderen noch lange nicht alle Hunderassen statistisch untersucht sind.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen