Vierbeinige Intensivpatienten: Von Illusionen und Zwängen

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Ralph Rückert – Tierarzt

Studium an der Ludwig-Maximilian-Universität in München
Niedergelassen in Ulm seit 1989

Mitgliedschaften:
Fachgruppe Kleintierkrankheiten der Dt. Veterinärmedizinischen Gesellschaft
Deutsche Gesellschaft für Tier-Zahnheilkunde
Akademie für tierärztliche Fortbildung
Bundesverband praktizierender Tierärzte e.V. (Fachgruppe Kleintierpraxis)

Neulich in der Hundegruppe: Die Besitzerin eines Hundes, der nach einer Magendrehungs-OP stationär in einer Tierklinik liegt, stellt in völlig nachvollziehbarer Sorge folgende Frage:

Tierklinik: angenommen, meinem Hund geht es plötzlich ganz bedrohlich schlecht, wird man in dem Fall dann auch nachts angerufen oder worst case, sie verstirbt heute Nacht. So was erfährt man doch dann bestimmt nicht erst spätmorgens, wenn man den Erkundigungsanruf tätigt, oder?

Ich habe der Besitzerin dort in der Gruppe folgendermaßen geantwortet:

Ich glaub, ich muss Euch da ein bisschen desillusionieren, vielleicht auch schockieren. Die Bilder, die Ihr im Kopf habt, stammen aus der Humanmedizin. Und selbst da ist ständige Überwachung nur möglich, weil die meisten Menschen sich verdrahten und elektronisch überwachen lassen, ohne sich ständig alles abzureißen oder abzubeißen. Ihr könnt nicht davon ausgehen, dass ein Tier, das stationär in einer Tierklinik liegt, die ganze Nacht lückenlos überwacht wird. Es kann also durchaus passieren, dass man erst am nächsten Morgen erfährt, wenn ein Tier nachts gestorben ist. Ist nicht schön, aber den Personalaufwand, den lückenlose Überwachung bedeuten würde, will nun mal keiner bezahlen. Wir reden da von 500 bis 1000 Euro als Tagessatz, nur für die stationäre Aufnahme, alle medizinischen Maßnahmen wie Untersuchungen, Injektionen, Infusionen, etc. NICHT inklusive.

In der Diskussion wurde dann die Formulierung verwendet, dass “immer wieder mal” nach dem Hund geschaut würde. Darauf mein zweiter Kommentar:

Ja, “immer wieder nach ihr schauen” ist schon richtig ausgedrückt. So würde ich das auch formulieren. (…) Auch ich würde in einer Nacht, in der ich eine Magendrehung operiert habe, recht wenig zum Schlafen kommen, weil ich “immer wieder” nach dem Patienten schauen würde. Aber unter rein medizinischen Gesichtspunkten reicht das leider nicht, denn Magendrehungspatienten, die nach eigentlich gelungener OP doch noch versterben, tun das wegen plötzlich auftretender Herzrhythmusstörungen. Und um die rechtzeitig zu bemerken, müsste man tatsächlich jede Minute daneben sitzen und den Hund lückenlos mit dem EKG überwachen. Mit “man” ist eine Tierärztin/ein Tierarzt gemeint, keine Tiermedizinische Fachangestellte, denn die 15 Minuten, die ich brauchen würde bis in die Praxis, wären in so einem Fall zu viel. Und genau das, nämlich lückenlose Überwachung durch einen Tierarzt plus Helferin, geht einfach nicht, denn das würde die OP locker um Tausend Euro teurer machen. Da kannste dann drauf warten, dass ein paar Tage nach gelungener Lebensrettung hier in der Gruppe (oder anderswo) die Frage gepostet wird: “Sagt mal, was darf eine Magendrehungs-OP eigentlich so kosten? Ich glaub, mein Tierarzt will mich abzocken, Rechtsanwalt ist schon eingeschaltet.“”

Also, wenn Sie bezüglich der Überwachung von vierbeinigen Intensivpatienten in tierärztlichen Praxen und Kliniken irgendwelche Illusionen pflegen, die eher aus der Humanmedizin stammen, dann müssen Sie sich von denen leider verabschieden.

Wollen würden wir eigentlich schon, denn es wäre gut für unsere Intensivpatienten. Können würden wir es auch. Natürlich stehen uns durchaus Überwachungsgeräte zur Verfügung, die mit denen in der Humanmedizin vergleichbar sind. Aber lückenlose Überwachung mit allen Schikanen ist in der Humanmedizin – wie in den oben zitierten Kommentaren schon erwähnt – eher einfacher als in der Tiermedizin. Gerade erfolgreich operierte Magendrehungspatienten sind ein paar Stunden postoperativ oft schon ganz schön lebhaft und liegen nicht wie entsprechende menschliche Intensivpatienten brav auf dem Rücken. Hängt so ein Hund an einem EKG oder Monitor, muss man darauf logischerweise permanent aufpassen, sonst sind die EKG-Kabel ruckzuck aufgefressen oder abgerissen.

Wir bräuchten also (neben der technischen Ausstattung) mindestens eine Tierärztin/einen Tierarzt PLUS eine Tiermedizinische Fachangestellte, die im Notfall assistieren kann, in durchgehender Anwesenheit, um auf eine beileibe nicht seltene und lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung angemessen reagieren zu können. Kein Problem, werden jetzt manche von Ihnen denken und sich vorstellen, wie weißhaarige und bräsige Chefs ihre jungen Assistentinnen und Assistenten für so was einteilen, und diese sich am nächsten Tag etwas blass und triefäugig, aber natürlich – man kennt das schließlich aus Film und Fernsehen – allzeit tapfer auch noch durch den normalen Sprechstundentag schleppen.

Noch vor ein paar Jahren war das tatsächlich so. Aber heute läuft da nix mehr, zumindest nicht im Rahmen der geltenden Gesetze. Für die Humanmedizin hat der Gesetzgeber Sonderregelungen zugelassen, nicht aber für die Tiermedizin. Für uns gilt das Gleiche wie überall: Im Schnitt sind nur 8 Stunden Arbeit pro Tag erlaubt, und an diese 8 Stunden muss sich eine mindestens 11-stündige Erholungspause anschließen. Folglich kann ich einen regelmäßigen Nachtdienst in einer Klinik noch nicht mal mit nur einem Tierarzt/TFA-Team abdecken, ich brauche zwei, an Wochenenden sogar drei Teams. Für eine sogenannte 24/7 Dienstbereitschaft müssen also mindestens vier solche Teams im Stellenplan angesetzt werden.

Die dadurch entstehenden Kosten sind geradezu immens! Nach neulich veröffentlichten betriebswirtschaftlichen Berechnungen muss eine Tierklinik 60.000 Euro (!) pro Monat (!) nur im Notdienst – also zusätzlich zum normalen Tagesgeschäft (!) – erwirtschaften, um die Kosten einer durchgehenden Dienstbereitschaft zu decken. Als Info zur korrekten Einordnung dieser Beträge: Eine durchschnittliche deutsche Kleintierpraxis erzielt pro Monat einen Gesamtumsatz von 20.000 bis 30.000 Euro.

Wir schlussfolgern: Eine durchgehende Dienstbereitschaft oder gar eine permanente Überwachung von Intensivpatienten ist im Rahmen der gesetzlichen Regelungen nur noch für große und sehr große tiermedizinische Einrichtungen machbar, weshalb wir seit etwa zwei Jahren erleben müssen, dass eine Tierklinik nach der anderen ihre Klinik-Zulassung aufgibt und damit aus der Verpflichtung zur durchgehenden Dienstbereitschaft aussteigt. Dadurch wiederum kommen die noch verbleibenden Tierkliniken unter zunehmenden Druck. Selbst ein Klinik-Gorilla wie Hofheim mit ca. 200 Mitarbeitern stößt nach eigenen Angaben langsam an seine Grenzen.

Um wieder auf unseren Beispielfall mit der Magendrehungs-Patientin zurück zu kommen: Eine postoperative Intensivüberwachung zu erwarten, wie sie laut Lehrbuch eigentlich aussehen sollte, ist fast immer unrealistisch und nur unter zwei Voraussetzungen überhaupt denkbar: Entweder liegt das Tier in einer der ganz großen Kliniken, die echte und tatsächlich auch in der Klinik anwesende Nacht-Teams haben, oder in einer inhabergeführten Praxis/Klinik, in der die Chefin/der Chef genug Leidensfähigkeit aufbringt, um die ganze Nacht neben dem Patienten zu sitzen und den darauf folgenden Sprechstundentag auch noch irgendwie hinter sich zu bringen.

In beiden Fällen aber müssen die Besitzer damit rechnen, dass eine solche Intensivpflege die sowieso beträchtlichen Kosten des Eingriffes nochmal massiv nach oben treibt. Wird nur “immer mal wieder”nach dem Patienten geschaut, ist es halt mehr oder weniger zufallsabhängig, ob im Moment des Auftretens einer Komplikation gerade jemand anwesend ist oder nicht. Und dann kann es leider passieren, dass der Hund allein, still und heimlich stirbt, und die Besitzer das erst am nächsten Morgen zu hören bekommen.

Ich weiß, dass sich das alles sehr, sehr unerfreulich anhört, aber bitte, don’t kill the messenger, wie die Engländer sagen. Ich habe es immer als eine der wichtigsten Zielsetzungen dieses Blogs herausgestellt, dass Ihnen als Tierbesitzer ein realistischer Blick auf die Tiermedizin gewährt werden soll, und so sieht es eben im Moment mit der Notfallversorgung aus.

Ich bin seit dreißig Jahren als selbständiger Praktiker tätig und kann es selbst kaum glauben, wie schnell die Situation gekippt ist. Jahrzehntelang konnten Sie, die Tierbesitzer, sich sicher sein, dass Ihnen in jeder der vielen erbittert miteinander konkurrierenden Praxen und Kliniken buchstäblich die Füße geküsst werden, dass sich um jeden Patienten (auch um Notfälle!) unter Berechnung von Schleuderpreisen geprügelt wird und dass Sie es sich sogar in dringenden Notsituationen noch aussuchen können, wo Sie deswegen anrufen. Nun haben wir plötzlich eine Situation, in der Sie im Notfall mehr oder weniger das nehmen werden müssen, was Ihnen angeboten wird. Das Kliniksterben ist noch nicht zu Ende. In manchen Regionen wird die Notfallversorgung völlig in sich zusammenbrechen. Sie werden teilweise sehr weite Wege auf sich nehmen müssen, um Hilfe für Ihr Tier zu bekommen. Und Sie werden teuer dafür bezahlen müssen.

Wie oben in den zitierten Kommentaren schon erwähnt: Eine eigentlich wünschenswerte Voll-Überwachung nach einer schweren Notoperation schlägt bei realistischer Berechnung schnell mit 1000 Euro und mehr zu Buche. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie in Zukunft in vielen Einrichtungen vor die Wahl gestellt werden, so nach dem Muster: “Bitte ankreuzen: Vollzeitüberwachung für 1199 Euro oder “Immer mal wieder schauen” für 599 Euro.”

Aus diesem (und anderen Trends) ergibt sich die von mir schon vor einiger Zeit geäußerte Vorhersage, dass gute (!) Tiermedizin in den nächsten Jahren enorm im Preis steigen wird. Nur sogenannte Gutverdiener unter den Tierbesitzern werden in Zukunft noch ohne die Absicherung durch eine Tierkrankenversicherung klar kommen, und genau dieses Thema werde ich im nächsten Artikel (wieder mal) vertiefen.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert