Ralph Rückert – Tierarzt | Bei den Quellen 16 | 89077 Ulm / Söflingen
Studium an der Ludwig-Maximilian-Universität in München |
Als Tierhalter kann man zweifellos manchmal das Gefühl bekommen, dass an buchstäblich jeder Ecke Giftköder ausgelegt sind, die das Leben des vierbeinigen Familienmitglieds bedrohen. Zusätzlich gibt es auch noch Vergiftungen, die nicht vorsätzlich durch böswillige Menschen, sondern durch Fahrlässigkeit oder einfach Pech verursacht werden. Dieser Artikel soll Ihnen helfen, frühestmöglich einen Vergiftungsverdacht stellen zu können und darauf richtig zu reagieren.
Wer jetzt erwartet, dass ich nun alle möglichen Giftstoffe und die dazugehörigen Symptome aufliste, wird enttäuscht sein. Ich denke nicht daran, irgendwelche Trottel (und Giftköder-Leger sind nun mal in der Regel soziopathische Vollpfosten) durch Benennung verschiedener Substanzen auch noch auf Ideen zu bringen, die ihnen selbst mangels Masse nie gekommen wären. Nein, hier wird es nur um die für Sie als Tierbesitzer erkennbaren Symptome gehen, die Sie zu der Vermutung bringen müssen, dass eine Vergiftung vorliegt. Die Interpretation dieser Symptome ist dann Sache Ihrer Tierärztin / Ihres Tierarztes.
Gleich zu Anfang eine Information, die man – je nach Standpunkt – entweder beruhigend oder auch extrem beunruhigend finden kann: Nach mehrfachen Aussagen von den Chefs verschiedener pathologischer Universitätsinstitute sind über 95 Prozent der toten Tiere, die dort mit der Verdachtsdiagnose “Vergiftung” auf dem Seziertisch landen, NICHT an einer Vergiftung verstorben. Das bedeutet, dass Tierärzte viel zu häufig eine Vergiftung unterstellen, wo es sich in Wirklichkeit um ein sogenanntes perakutes (mit bestürzender Geschwindigkeit ablaufendes) Krankheitsgeschehen anderer Art handelt. Demzufolge wäre “Vergiftung” die häufigste Fehldiagnose in der Tiermedizin. Schmeckt mir nicht und macht mir richtig Bauchweh!
Ohne jede Frage ist ein Vergiftungsverdacht mit einer unbekannten Substanz diagnostisch eine ausgesprochen schwierige Angelegenheit. Man muss sich aber als Tierarzt extrem in Acht nehmen, nicht dem berüchtigten Tunnelblick zu verfallen. Aber was soll man machen? Wenn der Verdacht mal im Raum steht, muss man entsprechend vorgehen, selbst in dem Wissen, dass man zu 95 Prozent falsch liegt. Die Diagnose “Vergiftung” ist leider auch noch auf eine hinterhältige Art recht verführerisch: Einmal geäußert, gerade, wenn einem sonst nichts Gescheites einfällt, ist man als Tierarzt irgendwie aus dem Schneider. Bekommt man den Patienten durch, ist man der Held, geht es schief, war definitiv der Giftleger schuld. Man kann als Tierarzt auch nicht mehr tun, als sich diese Zusammenhänge immer wieder vor Augen zu führen und sich redlich zu bemühen, nicht in diese Falle zu treten.
So, nach dieser langen Einleitung gehen wir jetzt mal ran an die Sache. Was vielen Tierhaltern nicht bewusst ist: Die humanmedizinischen Giftzentralen haben absolut kein Problem damit, auch bezüglich Vergiftungen beim Tier zu beraten, und das nach meiner Erfahrung sehr freundlich und kompetent. Wir haben diese Spezialisten in für uns zweifelhaften Fällen auch schon angerufen und immer davon profitiert. Wenn man sich also anders nicht zu helfen weiß und ganz speziell in den Fällen, in denen Humanarzneimittel im Spiel sind, die das Tier versehentlich aufgenommen hat, kann man da ruhig mal schnell anrufen.
Grundsätzlich können wir es mit verschiedenen Ausgangssituationen zu tun haben:
a) Das Tier hat (fast) sicher Gift aufgenommen, das Gift ist bekannt bzw. die aufgenommene Substanz hochverdächtig (Farbe, Beschaffenheit, etc).
b) Das Tier ist bei der Aufnahme von irgendetwas beobachtet worden, das eventuelle Gift ist nicht bekannt, das Tier zeigt (bisher) keine Symptome.
c) Wie b), aber das Tier zeigt verdächtige Symptome.
d) Es wurde keine Aufnahme von irgendetwas beobachtet, aber das Tier zeigt verdächtige Symptome.
Wie reagieren Sie richtig?
a) Bei aller Aufregung und Panik: Sichern Sie sich unbedingt alle Informationen zu dem aufgenommenen Giftstoff. Diese Situation tritt häufig ein, wenn Schädlingsbekämpfungsaktionen durch Behörden durchgeführt werden. Meist sind die giftigen Substanzen dabei irgendwie geschützt ausgebracht (Köderbox) und zusätzlich gekennzeichnet, so dass sofort klar ist, um was es sich handelt. Diese Kennzeichnung sollte man sich unbedingt abfotografieren oder notieren! Bitte nicht einfach mitnehmen, sonst hat der nächste Hund, der sich da bedient, ganz schlechte Karten. Wenn sich noch mehr der giftigen Substanz an diesem Ort findet, sollte diese möglichst gesichert oder entfernt werden. Bei nicht oder nicht eindeutig gekennzeichneten, aber hochverdächtigen Substanzen unbedingt eine Probe nehmen. Und dann pronto ab zum Tierarzt!
b) Schwierig! Wird natürlich in 99 Prozent aller Fälle irgendwas Fressbares ohne Gift gewesen sein. Wenn es in der betreffenden Gegend aktuell häufiger zu Vergiftungen gekommen ist, kann und muss man das sicher kritischer sehen. Es kommt auch darauf an, ob das Tier in den nächsten Stunden unter lückenloser Aufsicht steht, so dass eine sich entwickelnde Symptomatik sofort wahrgenommen werden kann. Wenn das gewährleistet ist, würde ich in diesen Fällen für aufmerksames Abwarten plädieren.
c) und d) Einfach, zumindest für Sie als Besitzer: Möglichst zügig zum Tierarzt! Der wiederum hat’s dann eher schwer.
Außer im Fall a), wo das Gift bekannt ist, kommt es also für Sie als Besitzer entscheidend darauf an, dass Sie die möglichen Symptome einer Vergiftung frühzeitig als solche erkennen. Wir können uns jetzt dementsprechend nicht davor drücken, die wichtigsten dieser Symptome der Reihe nach aufzuführen, so langweilig das auch sein mag. So gut wie alle diese Symptome sind dummerweise nicht spezifisch für eine Vergiftung mit diesem oder jenem und können auch im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen auftreten.
– Erbrechen und Durchfall: Oft die ersten, aber auch die am wenigsten spezifischen Symptome einer Vergiftung
– Akutes Abdomen, Koliken: Auch einfach Bauchweh genannt.
– Ataxien: Störungen der Bewegungskoordination, also unsicherer Stand und Gang.
– Bewusstseinsstörungen wie Desorientiertheit, verminderte Ansprechbarkeit, Sedation.
– Blutungen bzw. Gerinnungsstörungen: Aus dem Magen-Darm-Trakt als blutiges Erbrechen oder blutiger Kot, aus den Zahnfächern mit daraus resultierender Zahnverfärbung und unter die Haut (Ohr- und Schenkelinnenseiten) oder Schleimhaut (Zahnfleisch). Unterhautblutungen lassen sich im Gegensatz zu anderen geröteten Hautflecken nicht „wegdrücken“. Eventuelle Wunden hören nicht auf zu bluten.
– Defäkation, womit eigentlich der Kotabsatz ganz allgemein bezeichnet wird. Im Zusammenhang mit unserem Thema geht es uns aber um unwillkürlichen Kotabsatz.
– Dyspnoe, also erschwerte Atemtätigkeit bzw. Atemnot.
– Exzitation, also ein Zustand vermehrter Erregung, der sich auch durch motorische Unruhe äußern kann.
– Haarausfall, der speziell dann von Bedeutung ist, wenn haarlose Bereiche entstehen.
– Herzrhythmusstörungen, also beispielsweise Bradykardie (zu langsamer Herzschlag), Tachykardie (zu schneller Herzschlag), Extrasystolen, etc.
– Hyperthermie, also erhöhte Körpertemperatur.
– Ikterus, also Gelbsucht, bei Tieren besonders gut sichtbar im Augenweiß (Sklera).
– Koma, die schwerste Form der Bewusstseinsstörung.
– Krämpfe, Krampfanfälle
– Lähmungen
– Miosis (Pupillenverengung) oder Mydriasis (Pupillenerweiterung)
– Speicheln
– Tremor (Muskelzittern)
– Zyanose, also die mehr oder weniger starke Blau(grau)färbung von Haut und Schleimhäuten.
– Treten Miosis (Pupillenverengung), Speicheln, Erbrechen, unwillkürlicher Kotabsatz, Bradykardie (zu langsamer Herzschlag) und Muskelkrämpfe zusammen auf, spricht man vom Cholinergen Syndrom.
Lassen Sie sich doch bei Ihrem nächsten Besuch in Ihrer Tierarztpraxis mal einen Zwei-Minuten-Schnell-Check zeigen, der natürlich nicht nur bei Vergiftungen, sondern auch bei anderen Erkrankungen hilfreich ist, und der die folgenden Punkte abdecken sollte:
– Beobachtung: Bewegt und verhält sich das Tier normal?
– Schleimhautfarbe: Am besten feststellbar, wenn man die Oberlippe nach oben zieht und einen nicht dunkel pigmentierten Bereich der Schleimhaut besichtigt. Dieser sollte blassrosa bei der Katze und kräftig rosa bis rosarot beim Hund sein. Wenn Sie mit dem Finger kurz auf die Schleimhaut drücken, sollte der dabei entstehende weiße Fleck innerhalb von zwei Sekunden wieder verschwunden sein. Sehen Sie unter die Schleimhaut erfolgende Einblutungen oder tritt Blut aus den Zahnfächern aus?
– Sind die Pupillen auffällig klein, groß oder gar ungleich?
– Besichtigen der Sklera (Augenweiß): Diese muss weiß sein, mit einzelne roten Blutgefäßen. Sehen Sie Einblutungen oder eine Gelbfärbung?
– Kontrolle der Haut an den Ohr- und Schenkelinnenseiten: Sehen Sie Unterhautblutungen, also spritzerartige rote Flecken, die sich nicht „wegdrücken“ lassen?
-Betasten des Bauches: Dieser sollte locker sein, nicht gespannt und schmerzhaft.
-Ermitteln der Pulsfrequenz (pro Minute) an der Innenseite des Oberschenkels. Ist der Puls bei der Katze regelmäßig bzw. beim Hund regelmäßig-unregelmäßig (schneller beim Einatmen, langsamer beim Ausatmen)?
-Messen der rektalen Körpertemperatur (beim Hund einfach, bei der Katze oft schwierig bis unmöglich)
Glauben Sie mir: Wenn Sie Ihren Tierarzt alarmieren und dabei gleich die Ergebnisse dieses Schnell-Checks durchgeben, wird er zutiefst beeindruckt sein, weil diese Informationen zur korrekten Einschätzung der Situation enorm hilfreich sein können.
Einen Sonderfall stellen Köder mit Fremdkörpern wie Nadeln oder Nägeln dar, wie sie zuletzt hier in Ulm gefunden wurden. Der geringste Verdacht, dass so ein Köder aufgenommen wurde, rechtfertigt natürlich sofortiges Röntgen, womit metallische Fremdkörper problemlos nachgewiesen oder ausgeschlossen werden können. Wie abgeschluckte Nadeln oder Nägel dann therapeutisch angegangen werden, muss von Fall zu Fall unterschiedlich entschieden werden. Ist der Magen mehr oder weniger leer, hat man in den ersten Stunden, also solange sie noch im Magen sind, sehr gute Chancen, solche Fremdkörper unblutig per Magenspiegelung (Gastroskopie) zu entfernen. Ist der Magen dagegen voll, wird das meist nicht möglich sein. Was in solchen Fällen im Gegensatz zu vielen anderen Vergiftungen gar nicht geht, ist erbrechen lassen, weil das zu schweren Verletzungen in Magen, Speiseröhre und Rachen führen könnte. Bei entsprechender Größe des Hundes kann man unter engmaschiger Röntgenkontrolle abwarten, ob die Nadeln oder Nägel auf natürlichem Wege ausgeschieden werden, was öfter funktioniert als man denken würde. Ansonsten führt an einem operativen Eingriff leider kein Weg vorbei.
Übrigens: Katzen werden eher selten Opfer einer vorsätzlichen Vergiftung, einfach deswegen, weil sie in Bezug auf das, was sie aufnehmen, deutlich wählerischer sind als Hunde.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert